Stoffe aus Papier?
Zwei Musterbücher der Weberei Heinrich Besenbruch enthalten Proben eines ganz besonderen Stoffes – Gewebe aus Papiergarn! Was hat es damit auf sich?
Eine Notlösung muss her
Die Papier-Stoffmuster in den Büchern der Firma Besenbruch sind auf das Jahr 1918 datiert – sie wurden also zum Ende des Ersten Weltkriegs produziert. Zu dieser Zeit herrschte ein kriegsbedingter Rohstoffmangel, der in ganz erheblichem Maß auch die Fertigung von Kleidung und Textilien betraf. Um der kritischen Versorgungslage entgegenzusteuern versuchte man, Papiergarn als Ersatzstoff zur Herstellung von Geweben zu etablieren.
Technisch möglich…
Die Herstellung von Papiergarnen erfolgte industriell. Dazu wurde Papier mit besonderen Maschinen in schmale, nur millimeterbreite Streifen geschnitten und maschinell zu Fäden verdreht ("gesponnen"). Mit dem so entstandenen Garn konnten anschließend Gewebe produziert werden.
Probiert und geforscht wurde in der Textilindustrie schon länger zur Verwendung von Papier als Ausgangsmaterial für Garne. Ein Fachbuch zum Thema beschreibt die Branche 1904 als „neuen, eben im Entstehen begriffenen Industriezweig“. Die Verfahren aus Papier Garne herzustellen waren zwar technisch umsetzbar, jedoch verhältnismäßig langsam und teuer.
…aber praxistauglich?
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges verstärkten sich die Bemühungen der Industrie, Herstellungsverfahren und Eigenschaften von Papiergeweben zu verbessern, was zumindest in Teilen auch gelang. Dennoch: Bekleidung aus Papiergewebe war nicht beliebt. Sie war hart, wenig elastisch, schlecht zu reinigen und bot nur sehr geringen Tragekomfort.
Statt Mode aus Paris – Mode aus Papier?
Ein frommer Wunsch in Zeiten des Mangels
In der österreichischen Modezeitschrift Wiener Mode finden sich 1918 Anregungen für die Herstellung verschiedener durchaus modischer Kleidungsstücke für Frauen und Kinder aus Papiergewebe. Betont wird zwar, dass Papiergewebe nun mehr „Schmiegsamkeit und Haltbarkeit“ aufweisen, und dass außerdem der „gewaltige Preisunterschied im Verhältnis zu den anderen Geweben“ bewirken wird, dass sie breite Verwendung finden. Dies blieb jedoch ein vergeblicher Wunsch. In der Bevölkerung fanden Papiergewebe als Stoff für Bekleidung aufgrund ihrer zahlreichen negativen Eigenschaften keine nachhaltige Akzeptanz.
Übrigens...
Wissenswertes über Stoffkreisläufe
Nicht nur Kleidung wurde aus Papier hergestellt, sondern Papier wurde bis ins 19. Jahrhundert wiederum aus Kleidung hergestellt. Bis man für die Papierproduktion Zellulose verwendete (sogenannten „Holzschliff“) waren Lumpen, also zerschlissene Textilien, aus Leinen der hauptsächliche Rohstoff, aus dem in einem aufwendigen Verfahren Papier hergestellt wurde.